Agnes Krumwiede
Kunst und Politik
22.10.2023

Eröffnungsveranstaltung der Ausstellung "Unsere Menschen"

Einführung in die Ausstellung

Vor drei Jahren recherchierten meine Schwester und ich für eine Veranstaltung NS-Opfer aus Ingolstadt. Im Gedenkbuch des Vernichtungslagers Auschwitz begegneten wir den Namen von zwei Kindern. Mit Geburtsort Ingolstadt. Die beiden Kinder haben uns nicht mehr losgelassen. Nach einigen Recherchen fanden wir heraus: Die Tante der beiden in Auschwitz ermordeten Ingolstädter Kinder war die bekannte Zeitzeugin Zilli Schmidt, geborene Reichmann. Gestern vor einem Jahr ist sie verstorben. Aus Ingolstadt wurde die Familie Reichmann 1939 hinausgeekelt, man kann es nicht freundlicher formulieren. In Ingolstadt begann ihre Flucht. Eine Tochter von Otto Reichmann, dem jüngeren Bruder von Zilli Schmidt, ist heute hier, gemeinsam mit einem Mitglied der Familie Schubert. Die Vorfahren der beiden Familien waren in den 1930er Jahren zusammen in Ingolstadt. In der Beckerstraße 27 waren die Stellplätze für ihre Wohnwagen. Gestern waren wir gemeinsam dort. Im Jahr 2020 haben Uwe Neumärker und Jana Mechelhoff-Herezi von der Stiftung Denkmal in Berlin Zilli Schmidts Biografie veröffentlicht. Sie haben Zilli Schmidt sehr gut gekannt, Uwe Neumärker wird nachher über sie sprechen. Es ist uns eine große Freude, dass sie alle da sind.

Die Ausstellung „Unsere Menschen“ ist maßgeblich Roberto Paskowski und dem Ingolstädter Sinti Kultur- und Bildungsverein  zu verdanken. Gemeinsam mit Herrn  Paskowski durfte ich in den letzten zwei  Jahren einige Familien Deutscher Sinti besuchen, die in Ingolstadt leben. Sie haben uns ihre Familiengeschichten anvertraut und erzählt, was die Älteren über die Zeit in den Konzentrationslagern berichtet haben. „Was Du jetzt weißt“, sagte mir der Sohn eines Holocaust-Überlebenden, „ist nur so viel von dem, was wirklich war“. Außerdem meinte er: „80 Jahre sind vergangen, so lange hat es gedauert, bis mal jemand von euch kommt und fragt, was damals passiert ist.“

Vor, während und danach – das ist der programmatische Rahmen unserer Ausstellung. Die Stigmatisierung und Ausgrenzung von Sinti und Roma begann nicht erst mit dem Nationalsozialismus. Die Weichen wurden schon in der Weimarer Republik gestellt. Und die Verfolgung  und Ausgrenzung endete nicht mit dem Nationalsozialismus. Fünf Mark pro Tag in einem Konzentrationslager, erzählte mir ein Zeitzeuge, erhielten Sinti und Roma als Entschädigung - ab Inkrafttreten des sogenannten Auschwitzerlasses. Fünf Mark pro Tag. Das ergab für einen Holocaustüberlebenden der Sinti und Roma damals eine Einmalzahlung von wenigen tausend Euro als Entschädigung.  Erst durch Interessenverbände der Sinti und Roma, allen voran dem Zentralrat unter Romani Rose, verbesserte sich die Situation, 1982 wurde der Völkermord aus rassischen Gründen endlich offiziell anerkannt. Es dauerte Jahrzehnte, bis der Völkermord an Sinti und Roma ins öffentliche Bewusstsein rückte.

Das Erzählen eines persönlichen Schicksals kann historische Fakten einprägsamer  vermitteln als Zahlen und Geschichtsbücher. Deshalb stehen die Biografien im Mittelpunkt dieser Ausstellung.  Zu jeder Biografie gibt es eine Stellwand gibt mit einem historischen Ereignis, welches in der jeweiligen Lebensgeschichte eine Rolle spielt. Unterbrochen haben wir dieses Schema zum Beispiel bei der Darstellung der Rassenhygienischen Forschungsstelle. Diesen entwürdigenden Themenkomplex mit einigen Täterfotos wollten wir nicht auf einer Ebene mit den Biografien präsentieren.

Unser Leitfaden vor, während und danach bezieht sich auch auf die Auswahl der Biografien. Sie werden die Geschichte einer Familie von Gauklern und Komödianten und einer Deutschen Sinti-Familie kennen lernen, die sich vor dem Nationalsozialismus in Ingolstadt aufgehalten haben. Und von Deutschen Sinti, die während oder nach dem Nationalsozialismus in Ingolstadt gelebt haben. Vor, während und danach –betrifft auch die Gliederung der einzelnen Biografien. Wir erzählen nicht nur das Verfolgungsschicksal, sondern auch, wie es für die Überlebenden nach 1945 weiterging. Wie sie um ihr Recht auf Entschädigung und auf Anerkennung des Völkermordes kämpfen mussten. Zur Geschichte der Sinti und Roma gehört nicht nur die kontinuierliche Verfolgung und Ausgrenzung, sondern auch ihr mutiger Widerstand gegen den Faschismus in ganz Europa, ihr Ringen um Selbstbestimmung, gegen die teils bis heute andauernde Diskriminierung und Erfassung.

Die Ausstellung „Unsere Menschen“  lebt von den vielen historischen Fotos, die uns zum Großteil Angehörige dankenswerterweise zur Verfügung gestellt haben. Und durch die einfühlsame Grafik von Marc Köschinger.

Was die Biografien so besonders macht, ist ihre Authentizität. Sie enthalten Zitate von Zeitzeug*innen der ersten, zweiten oder dritten Generation, die mit historischen Dokumenten unterlegt wurden. Außerdem werden zahlreiche Aussagen aus Prozessakten oder Entschädigungsakten zum ersten Mal veröffentlicht.

Das verbindende Element ist der Bezug zu Ingolstadt. Bei jeder Biografie kann man sich denken: Das hätten die Nachbarn meiner Großeltern in Ingolstadt sein können, oder: Das könnten meine Nachbarn sein. Das waren oder sind ja auch Ingolstädter Bürgerinnen und Bürger.

In der Ausstellung und den Katalogtexten verdeutlichen wir die Dimension und Komplexität des Völkermordes: Der Tatort war nicht nur in Auschwitz-Birkenau, der Völkermord hatte viele Facetten: Ermordung durch Massenerschießungen wie beim Massaker der Wehrmacht in unserer Partnerstadt Kragujevac, Zwangsarbeit oder der Zwang, kinderlos zu bleiben. Oder ein Überleben in der Illegalität. In einigen Biografien werden auch die Entscheidungsspielräume deutlich, die es auf Seiten der nationalsozialistischen Täter gegeben hat. Entscheidungsspielräume, die manchmal genutzt wurden, um Leben zu retten. Solche Beispiele widerlegen den Mythos, dass damals niemand eine andere Wahl gehabt hätte.
Es gibt immer die Wahl, ein Mensch zu bleiben.

Eine Ausstellung über die Verfolgung von Sinti und Roma ist nicht denkbar, ohne die Frage nach der Täterschaft mit einzubeziehen: Welche Mitverantwortung und Mitwisserschaft gab es im Nationalsozialismus, welche Rolle spielten die Kirchen? Wer waren die Täter? Wurden sie bestraft oder kamen sie davon?

Die Familien von Holocaustopfern sind teils bis in die dritte Generation traumatisiert. Ein Trauma hat nur dann eine Chance auf Heilung, wenn es eine öffentliche Anerkennung des Unrechts und des Leids für die Familien gibt. Die Ausstellung „Unsere Menschen“ ist aber keine Ausstellung für Sinti und Roma, sie kennen ihre eigene Geschichte. Dies ist eine Ausstellung für die Ingolstädter Bürgerinnen und Bürger.

Als ich die Texte für die Ausstellung und den Katalog schon abgegeben hatte, telefonierte ich mit dem Zeitzeugen Robert E.. Robert E. hat als Kind mehrere Konzentrationslager überlebt. Bei diesem Telefonat sagte er etwas, das ich hier zitieren möchte, weil diese Aussage eine Ahnung der Zerstörung vermittelt, die der Völkermord in fast allen Familien hinterlassen hat. Als wir gerade über etwas ganz Belangloses gesprochen haben, sagte Robert E. plötzlich:

„Was ich übrigens noch sagen wollte: Eigentlich habe ich gar nicht überlebt. Ich bin nur irgendwie durchgekommen.“

Für einige Familien Deutscher Sinti ist Ingolstadt in der Nachkriegszeit zur Heimat geworden. Weit mehr als 200 Sinti und Roma leben aktuell in Ingolstadt.

Indem wir ihre Geschichte weitertragen, verteilen wir den Auftrag „Nie Wieder“ auf mehrere Schultern.

Roma aus Südosteuropa, aktuell aus der Ukraine, suchen in unserer Stadt Schutz vor Krieg und Verfolgung, unter ihnen auch Nachfahren von Opfern des Nationalsozialismus. Auch ihre Situation geht uns etwas an!

Diese Ausstellung und der Katalog wurde unterstützt durch sehr viele Menschen und Institutionen, die ich hier alle nicht aufzählen kann, steht aber ja alles im Begleitband. Allen voran danken wir den Angehörigen für ihre vertrauensvolle Zusammenarbeit und bei Roberto Paskowski, dem Sinti Kultur- und Bildungsverein und dem Landesverband. Außerdem danke ich dem wissenschaftlichen Lektor dieser Ausstellung Leonard Stöcklein und Cornelia Schütz für ihr formales Lektorat. Herzlichen Dank an die Stiftung Denkmal für die Unterstützung dieser Ausstellung.

 

 

 

 

 

 

 

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