Agnes Krumwiede
Kunst und Politik
15.12.2011

Rede im Plenum

Ratifizierung des UNESCO-Übereinkommen zur Bewahrung des immateriellen Kulturerbes

Sehr geehrter Herr Präsident, liebe Kolleginnen und Kollegen,    

seit 2006 haben 136 Staaten das UNESCO-Übereinkommen zur Bewahrung des immateriellen Kulturerbes ratifiziert. Eine Ratifizierung von deutscher Seite ist längst überfällig. Aber ein Bekenntnis zur Beteiligung allein genügt nicht. Entscheidende Verfahrensfragen werden im Antrag der Koalition ausgespart.
In unserem gemeinsamen Antrag mit der SPD fordern wir die Bundesregierung auf, Rahmenbedingungen zur Umsetzung festzulegen. Dazu gehört die Erstellung eines nationalen Kriterienkatalogs ebenso wie das Konzept für ein basisdemokratisches Nominierungsverfahren. Wir fordern ein mit der Schweiz vergleichbares Verfahren, das die Zivilgesellschaft bei der Erstellung von Inventarlisten immaterieller Kulturgüter für das UNESCO-Übereinkommen unmittelbar beteiligt.

Immaterielle Kulturgüter sind fester Bestandteil unseres Alltags. Kinderlieder, Märchen, das Kunsthandwerk ebenso wie die Ess- und Trinkkultur prägen unsere Identität. Immaterielle Kulturgüter lassen sich schwer eingrenzen, denn sie befinden sich in ständiger Veränderung durch generationsbedingte, soziale und interkulturelle Einflüsse. Die Debatte um die Nominierung immaterieller Güter ist in vollem Gange. Allein schon dieser gemeinsame Suchprozess ist ein Gewinn für unsere Gesellschaft:

Die Auseinandersetzung mit der Bedeutung immaterieller Güter stärkt das kollektive Bewusstsein für ihren Wert. Mittlerweile kursieren zahlreiche Vorschläge, von den Kneippkuren bis hin zum Thüringer Kloß und dem Reinheitsgebot für das deutsche Bier. Den Ideen sind keine Grenzen gesetzt und UNESCO-Generaldirektorin Irina Bokova hat bereits die Staaten davor gewarnt, das Übereinkommen mit zu vielen Vorschlägen zu überfrachten. Dem Komitee lagen 2011 insgesamt rund 80 Vorschläge vor. Um glaubwürdig arbeiten zu können, wären 60 nach Ansicht von Irina Bokova das absolute Maxium.

Umso dringender brauchen wir verbindliche Kriterien für das Auswahlverfahren in Deutschland. Das gesamte Spektrum unseres Reichtums an immateriellen Gütern muss berücksichtigt werden. Ich halte es für eine Denkfalle, bei der Auswahl immaterieller Kulturgüter das Kriterium „typisch deutsch“ als Maßstab anzulegen. Kunst und Kultur kennen keine nationalen Grenzen. Zahllose Werke deutschsprachiger KomponistInnen, AutorInnen und KünstlerInnen sind inspiriert durch multikulturelle Einflüsse. Der Christopher-Street-Day oder Balkan-Parties sind heute in Deutschland ebenso etablierte Traditionsfeste wie das Münchner Oktoberfest oder andere regionale Volksfeste.

Immaterielle Kulturgüter kennzeichnen die Einzigartigkeit und Vielfalt gesellschaftlicher Gruppen. Ideologisch und politisch motivierte Ausgrenzungstendenzen haben beim Auswahlverfahren genauso wenig verloren wie rein kommerzielle Überlegungen. Kulturtraditionen aller kulturellen und gesellschaftlicher Gruppen müssen bei der Auswahl gleichberechtigt berücksichtiget werden. Auch das traditionsreiche Kulturgut der deutschen oder in Deutschland lebenden Minderheiten muss eine Rolle spielen. Ein Auswahlkriterium könnte daher die Schutzbedürftigkeit sein. In Österreich beispielsweise wurde die Sprache der Burgenland-Roma in die Vorschläge mit aufgenommen. Auch unser Kulturleben ist geprägt durch mündliche Überlieferungen der Geschichten und Lieder und der von Generation zu Generation weitergegebenen Instrumentalmusik der Sinti und Roma.

Mit der Nominierung immaterieller Kulturgüter von deutscher Seite muss ein angemessener Schutz gewährleistet sein. Mittlerweile hat die UNESCO dafür einen internationalen Fonds eingerichtet. Wie dieser angemessene Schutz konkret umgesetzt werden kann, dazu gibt es von der Bundesregierung noch keinerlei Vorschläge. Deshalb fordern wir in unserem gemeinsamen Antrag mit der SPD die Entwicklung solcher Konzepte. Hier liegt eine der zukünftigen politischen Hauptaufgaben mit großer Tragweite: Wenn z.B. die mündlichen Überlieferungen der Kulturtradition von Sinti und Roma unter Schutz des UNESCO-Übereinkommens fallen, müssen Sinti und Roma selbst auch angemessenen Schutz erhalten. Das bedeutet: Sinti und Roma müssen Bleiberecht erhalten in den Ländern, wo sie langjährigen Duldungsstatus haben.
 
Und sollte unsere Opern- Konzert- und Theatertradition als immaterielles Kulturgut vorgeschlagen und anerkannt werden, dann müssen wir dafür sorgen, dass sich die sozialen und wirtschaftlichen Bedingungen für Kulturschaffende verbessern. Damit der Beruf als BühnendarstellerIn oder RegisseurIn auch für nachfolgende Generationen attraktiv ist und sich die Tradition fortsetzt.
Die Ratifizierung der UNESCO-Übereinkunft ist also mit weitreichenden Konsequenzen verbunden. Und genau darin liegt eine große Chance für unsere Gesellschaft und die Weiterentwicklung unserer kulturellen Vielfalt!

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